Roland Meyer

GESICHTSBILDFORMATE. Formatierung, Operativität und Bildlogistik am Beispiel des fotografischen Porträts

Beinahe seit ihren Anfängen ist die Geschichte des fotografischen Porträts auch die Geschichte seiner Formate und Formatierungen. Die fotografische Massenproduktion beginnt überhaupt erst mit der Durchsetzung eines neuen Bildformats, nämlich um 1860 mit Adolphe-Eugène Disdéris Carte-de-Visite-Format. An ihm lässt sich zeigen, wie Formate gerade durch Einschränkungen produktiv werden – die Begrenzung des Bildformats wird mit der Carte-deVisite zur Basis für soziale Praktiken des massenhaften Bildertauschs wie für neue Dispositive des Sammelns und Speicherns. Formate, auch dies zeigt das Beispiel, setzen stets eine bestimmte Interpretation technischer Medien, ihrer Möglichkeiten und Grenzen voraus. Als sich das Carte-de-Visite-Format durchsetzt, ist die Fotografie schon lange etabliert. Doch vor Disdéri hat wohl niemand mit derselben Konsequenz die fotografische Platte als begrenzten Speicherraum begriffen, dessen Effizienz sich durch Aufteilung und Unterteilung vervielfachen lässt. Die Konsequenz von Disdéris Formatierung markiert den Beginn der Serialisierung des fotografischen Porträts – die im Laufe des 20. Jahrhunderts weitreichende Konsequenzen haben wird: Basierte das klassische Individualporträt auf der Idee der Einzigartigkeit eines Individuums, das sich in einem ebenso einzigartigen Bild repräsentiert, schafft nun die Vereinheitlichung von Formaten mediale Räume der Vergleichbarkeit, die jedem individuellen Akt der Bildproduktion vorgängig sind. Das Bild wird fortan nicht mehr als Stellvertreter einer einzigartigen Person fungieren – es wird vielmehr zum Dokument der stets wiederholbaren Konfrontation eines beliebigen Subjekts mit einem anonymen Apparat der Bildproduktion.
Ausgehend von Disdéri will der geplante Beitrag eine Reihe von Schlaglichtern auf die Geschichte von Porträtformaten unter den Bedingungen der massenhaften Produktion und Zirkulation technischer Bilder werfen. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von Formatierung und Operativität. Denn die Geschichte des fotografischen Porträts ist nicht zuletzt auch die Geschichte seiner zunehmenden Operationalisierung, der massenhaften Erfassung und systematischen Verkettung von Gesichtsbildern und Daten, vielmehr: von Bildern als Daten – von den polizeilichen Erkennungsdiensten des späten 19. Jahrhunderts bis zur algorithmischen Auswertung digitaler Bilderströme. Formatierung erscheint als wesentliche
Voraussetzung dafür, dass fotografische Porträts zu operativen Bildern werden können, lässt sie sich doch als jene Praxis beschreiben, die aus Aufzeichnungen Daten macht, indem sie eine materielle Einschreibefläche einer symbolischen Ordnung unterwirft. Formatierung nimmt Aufteilungen und Einteilungen von Speichermedien vor, sie setzt Grenzen und etabliert Unterscheidungsmöglichkeiten. Jede Formatierung begrenzt damit die Kontingenz möglicher Bilder und bestimmt darüber, was sich überhaupt als Bild speichern und archivieren lässt.
Der Blick zurück auf analoge Formate der massenhaften Produktion und Auswertung von Bildern lässt dabei auch die Frage nach den spezifischen Qualitäten digitaler Bilder in neuem Licht erscheinen. Lange bevor digitale Dateiformate beginnen, den Informationsaustausch in elektronischen Kommunikationsnetzen zu bestimmen, zielt bereits die Vereinheitlichung von Aufzeichnungsverfahren, Ablagesystemen und Beschriftungsweisen in bürokratischen Apparaten wie dem polizeilichen Erkennungsdienst darauf, die Anschlussfähigkeit von Bildoperationen sowie die Vergleichbarkeit von Resultaten in arbeitsteilig organisierten institutionellen Abläufen sicherzustellen. Erst unter digitalen Bedingungen jedoch wird eine archivische Bildlogistik, die Bilder als formatierte Datensätze behandelt, die sich mittels standardisierter Metadaten sortieren, adressieren und verknüpfen lassen, auch für die private Bildpraxis bestimmend. Zwar waren Gesichtsbilder seit den Anfängen technischer Bildproduktion ebenso in individuelle Praktiken sozialer Kommunikation wie in institutionaisierte Dispositive massenhafter Informationsauswertung eingebunden. Doch fand beides in unterschiedlichen Distributionssphären statt: Zwischen den sozialen Netzen, in denen man sich gegenseitig sein Carte-de-Visite-Porträt zukommen ließ, und den Kommunikationskreisläufen etwa der polizeilichen Erkennungsdienste bestanden kaum Berührungspunkte. Heute lässt sich dagegen eine weitgehende Vermischung vormals getrennter Sphären konstatieren: Unter den Bedingungen digitaler Vernetzung zirkulieren beinahe alle technischen Bilder in derselben medialen Infrastruktur – erst die umfassende Kompatibilität digitaler Bildformate ermöglicht den operativen Zugriff auf beliebige Bilder.

 

Roland Meyer ist Kunst- und Medienwissenschaftler. Von 2007 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der UdK Berlin, am Fachbereich Kunst- und Kulturgeschichte im Studiengang Architektur. Er hat im 2016 an der HfG Karlsruhe seine Dissertation »Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit« abgeschlossen und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Projektassistent am Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Geschichte operativer Bildlichkeit, die moderne Medien- und Bildgeschichte des Gesichts sowie Fragen der Medialität der Architektur.

Publikationen (Auswahl):
»Operative Porträts. Formate und Protokolle erkennungsdienstlicher Bildproduktion«, in: Renate Wöhrer (Hg.): Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken, Berlin: Kadmos 2015, 119–137

Medien / Architekturen, ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 12, Berlin/Zürich: Diaphanes 2015 (Schwerpunktredaktion mit Christa Kamleithner und Julia Weber)

Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, 2. Bd., Bielefeld: transcript 2011/13 (Hg., mit Susanne Hauser und Christa Kamleithner)

»Augmented Crowds. Identitätsmanagement, Gesichtserkennung und Crowd Monitoring«, in: Inge Baxmann/Timon Beyes/Claus Pias (Hg.): Soziale Medien – Neue Massen, Berlin/Zürich: Diaphanes 2014, 103-118.