Marek Jancovic

Format, Codec, Protokoll: Alles nur Kulturtechnik? Verlustfreie Kompression im Archivwesen

Im Rumoren der Archive wird in den letzten Jahren immer deutlicher eine wiederkehrende Melodie vernehmlich: Formatstandardisierung. Viele Institutionen weltweit, vor allem aber auch jene einflussreichen europäischen und nordamerikanischen Archive, deren Aufbewahrungsrichtlinien das Kulturerbe für kommende Generationen maßgeblich gestalten werden, beteiligen sich an internationalen Initiativen zur Vereinheitlichung der als chaotisch und fehleranfällig wahrgenommenen Vielfalt analoger und digitaler Medienformate. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem verlustfreie Kompressionsformate, von denen man sich eine endgültig unvergängliche, permanente Aufbewahrung audiovisueller Bestände verspricht.
Es ist naheliegend, dass Jonathan Sternes Skizze einer „Formatwissenschaft“ ausgerechnet an einem verlustbehafteten Kompressionsverfahren wie MP3 demonstriert wurde. Sternes Buch war, neben den vielen anderen Studien aus der gleichen Zeit (etwa zur Ästhetik visueller und akustischer Glitches, zum Rauschen, zur Encodierung oder zur Medienforensik digitaler Texte), einer der prominentesten Kristallisationspunkte einer Strömung in der Medienwissenschaft, die im letzten Jahrzehnt verschärfte Aufmerksamkeit der Materialität medialer Vorgänge schenkt. Egal ob digital oder analog, gerade verlustbehaftete Kompression ist es, die mittels ihrer sensorisch wahrnehmbaren Degradationsphänomene, Störerscheinungen und Fehler die Materialität von Formaten greifbar und somit medienhistorisch handhabbar macht. Im Gegensatz dazu fand verlustfreie Kompression bislang verhältnismäßig wenig medienwissenschaftliche Beachtung – nicht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil die epocheprägenden Formate des Post-Fernsehzeitalters (MPEG, JPEG, GIF, MP3) aus der alltäglichen Medienpraxis vertraut sind, wohingegen verlustfreie Verfahren wie FFV1 oder JPEG2000 Nischenandwendungen sind.
Am Beispiel der aktuellen Archivformatmigration und -standardisierung wird dieser Beitrag versuchen, die kulturelle Bedeutung der verlustfreien Kompression etwas mehr in den Vordergrund der medienwissenschaftlichen Forschung zu rücken. Eine weitere Zielsetzung ist methodologisch. Liam Cole Young bezeichnete Sternes format studies unlängst als einen möglichen Berührungspunkt zwischen den Interessen der anglo-amerikanischen materialistischen Medienwissenschaft und dem europäischen medienphilosophischen Denken. Dieser interessante „Claim“ verlangt nach einer Auseinandersetzung mit einigen Grundsatzfragen, vor allem aber mit der wachsenden Bedeutung neuer medienwissenschaftlicher Währungen: Formate, Codecs, Interfaces und Protokolle werden rege analysiert und sie alle sind für Medien und die Medienwissenschaft fraglos wichtig, doch in welchem Verhältnis – nicht nur zum „Medium“, sondern auch zueinander – stehen sie? Sind es neue Grundbegriffe, die neue analytische Ebenen freisetzen, oder sind es doch alles „nur“ Kulturtechniken im weiten Sinne?
Trotz einiger Überlappungen im Sprachgebrauch ist die Körnung und Rastergröße aller dieser Begriffe unterschiedlich. Wo Codec und Protokoll einigermaßen kohärent algorithmisch-textuelle und intertextuelle Ordnungsmuster und Konventionen bezeichnen (und somit entfernt sogar an „Genre“ erinnern), verfügt „Format“ scheinbar über keinen schlüssigen Bedeutungsinhalt. Was das Format an definitorischer Präzision einbüßt, gewinnt es an konzeptueller Plastizität, denn der Begriff befriedigt offenbar die terminologischen Ansprüche vieler Fachrichtungen, begonnen bei der Bibliographie und Kunstgeschichte bis hin zur Informatik oder Film- und Fernsehwissenschaft. Folglich soll am Beispiel von Archivformaten auch gefragt werden: Wann wird etwas zu einem Format?

 

Marek Jancovic studierte Translationswissenschaft an der Universität Wien und Medienwissenschaft an der Universität Amsterdam. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und promoviert zum Thema „Misinscriptions. Signalstörungen in der Mediengeschichte“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Archäologie früher Film-, Fernseh- und Kommunikationstechnologien, die Ökonomien globaler Medien sowie Aufbewahrungsstrategien und -praktiken gegenwärtiger Medienarchive.